Kürzlich war ich beim ArtCamp-Festival in Herbsthausen. Das Thema lautete „Was ist das Gute?“. Die Atmosphäre war unprätentiös und nahbar – ein Fest, das Nähe ausstrahlte statt Distanz. Doch der Hintergrund zu dem Themenansatz war durchaus ein ernster. Denn die Frage „Was ist das Gute?“ ist in Zeiten von Krieg, Flucht und gesellschaftlichen Krisen eine existenzielle Suche nach Orientierung. Wenn 55 Künstler:innen aus der Ukraine, Belarus, Serbien und Deutschland zusammen eine Ausstellung gestalten, entsteht ein kollektiver Dialog über Hoffnung, Solidarität und Menschlichkeit – ein künstlerischer Gegenentwurf zu Resignation und Zerstörung. Trotzdem stand ich hier und da fragend vor Arbeiten oder Performances – wünschte mir eine Art “Moderne Kunst Einsteiger-Guide” zu Hilfe.



Und ich bekam Hilfe. Meine fünfjährige Tochter! Sie lief unbefangen durch die Ausstellung, blieb dort stehen, wo sie neugierig war, stellte Fragen, ging in die Knie, wechselte die Perspektive. Sogar mitten in der ein oder anderen Performance fragte sie halblaut: „Warum machen die das?“ – eine Frage, die man sich ruhig stellen darf und sollte. Denn dann macht Kunst Spaß und ist interessant. Wenn wir reflektieren und mitentscheiden, statt nur mit einem Fragezeichen und einer Distanz dazustehen.
Genau das trauen wir Erwachsenen uns selten – gerade in der Begegnung mit Kunst. Wir sind oft eingeschüchtert: Da sprechen Menschen eine Sprache, die wir vielleicht nicht (sofort) verstehen. Oder wir fürchten, das „Falsche“ zu sagen und als unwissend zu gelten.

Dieser offene, spielerische Blick meiner Tochter hat mich angeregt, mir die Frage zu stellen: Warum fühlen sich so viele Einsteiger:innen unsicher vor moderner und zeitgenössischer Kunst?
Denn dieser unbefangene Zugang – ohne Angst vor „falschem“ Verstehen – ist vielleicht der beste Schlüssel, um moderne Kunst zu entdecken.
„Das soll Kunst sein?“ – kaum ein Satz fällt so oft in Museen moderner Kunst.
Ein Foto vom Fluss, das Millionen kostet. Eine Leinwand voller Spritzer. Ein “Haufen Schrott” als Skulptur. Während die anderen Besucher ernst nicken, fühlt man sich schnell ausgeschlossen – weil wir uns nicht damit beschäftigen (wollen). Doch genau darin liegt der Schlüssel: Moderne Kunst will uns manchesmal irritieren. Sie will nicht nur schön sein, sondern Fragen stellen. Genau so gehe ich schließlich auch in der experimentellen Fotografie vor. Ich will nicht abbilden, ich möchte neue Perspektiven und ungewohnte Sichtweisen bieten, möchte von klassischen Regeln der fotografischen Bildgestaltung abweichen.
Laut dem Künstler David Tollmann markiert moderne Kunst eine „Revolution der Wahrnehmung“ – sie löst sich von Konventionen und öffnet Raum für neue Ausdrucksformen.
Warum wirkt moderne Kunst „komisch“?
Früher sollte Kunst oft die Welt abbilden: Könige, Landschaften, religiöse Szenen. Moderne Kunst dagegen versucht, etwas anderes sichtbar zu machen – Gedanken, Gefühle, gesellschaftliche Themen.
- Fotografie: Andreas Gurskys Rhein II zeigt nur Himmel, Wiese, Fluss. Banal – und doch revolutionär: Natur reduziert auf Linien und Flächen, wie eine abstrakte Komposition.
- Malerei: Jackson Pollock schleuderte Farbe auf die Leinwand. Nicht das Motiv war sein Ziel, sondern die Bewegung selbst.
- Skulptur: Joseph Beuys stapelte Filz und Fett. Es ging nicht um Schönheit, sondern um Wärme, Energie und Erinnerung.
- Objektkunst: Marcel Duchamp stellte 1917 ein Pissoir ins Museum und fragte: „Wer bestimmt, was Kunst ist?“
Einschüchterung im Museum
Manchmal steht man schweigend vor einem Werk – unsicher, ob man „falsch“ denkt. Das ist wie im Ausland, wenn man die Sprache nicht versteht: Man hört Laute, sieht Gesten, doch der Sinn entgleitet.
So ist es auch in der Kunst. Sie spricht eine Sprache, die man erst lernen muss – quasi Moderne Kunst für Einsteiger. Und wie beim Reisen hilft: neugierig bleiben, Fragen stellen, genau hinschauen.
Dabei ist das Museum nicht immer der leichteste Ort für diesen Zugang. Oft wirken Räume beengt, Werke streng inszeniert, Besucher:innen durch Verhaltensregeln gebremst. Das ArtCamp in der unkonventionellen Umgebung eines alten Sägewerks eröffnet dagegen einen anderen Zugang: frei, roh, nahbar – eine Atmosphäre, die es leichter macht, ohne Hemmschwelle auf Kunst zuzugehen.
Moderne vs. zeitgenössische Kunst – kurz, klar, verständlich
Strömungen im Überblick
Strömung | Zeitraum | Kurzbeschreibung | Beispiel-Künstler:in |
---|---|---|---|
Impressionismus | ab 1860 | Licht, Atmosphäre, flüchtige Eindrücke | Claude Monet |
Expressionismus | 1905–1925 | Emotion statt Detail – starke Farben | Wassily Kandinsky |
Kubismus | ab 1907 | Objekte aus mehreren Blickwinkeln gleichzeitig | Pablo Picasso |
Surrealismus | ab 1920 | Traumhaft, skurril, überraschend | Salvador Dalí |
Bauhaus | 1919–1933 | Form folgt Funktion – minimalistisch | Walter Gropius |
Pop Art | 1950–1970 | Alltag, Werbung, grelle Farben | Andy Warhol |
- Moderne Kunst: ca. 1860–1970 – Impressionismus, Surrealismus, Pop Art etc.
- Zeitgenössische Kunst: ab ca. 1970 bis heute.
Die Plattform Gallerease erklärt, dass moderne Kunst dort endet, wo zeitgenössische Kunst beginnt – beide sind historisch klar voneinander abgegrenzt.
Fragen an die Kunst
„Kunst muss man nicht verstehen wie Mathematik. Man darf sie erleben wie ein Gespräch.“
Fragen, die helfen können:
- Warum hat die Künstlerin gerade dieses Material gewählt?
- Welche Gefühle löst das Werk in mir aus – auch Ablehnung ist erlaubt?
- Welche Themen der Gegenwart könnten darin stecken?
- Wie sähe das Objekt im Alltag statt im Museum aus?
- Was entdecke ich beim zweiten Hinschauen?
Und im Gespräch mit Künstler:innen:
- „Wie kamst du auf die Idee?“
- „Welche Geschichte steckt dahinter?“
- „Darf ich mein eigenes Gefühl hineinlesen, oder gibt es eine feste Bedeutung?“
Gute Kunst – schlechte Kunst?
Natürlich gibt es auch Beliebigkeit und reine Provokation. Doch Werke, die bleiben, haben meist mehr Tiefe als einen schnellen Effekt.
Drei Orientierungspunkte:
- Originalität – bringt das Werk etwas Neues hervor?
- Kontext – steht es im Dialog mit seiner Zeit oder anderen Künstler:innen?
- Nachhall – bewegt, empört oder inspiriert es über Jahre hinweg?
Wie sehr diese Kriterien wirken können, habe ich beim ArtCamp selbst gespürt. Dort erlebten wir eine Performance, die genau diese Mischung aus Irritation, Kontext und Nachhall entfaltet hat: Ein Künstler stand im alten Bretterverschlag und hielt einen brüchigen Monolog über Selbstfindung, Zerrissenheit und Verlorensein – gesprochen in gebrochenem Englisch mit osteuropäischem Akzent, untermalt von dumpfen Basslinien. Währenddessen grub er sich halb in den Sand ein, die Lippen blutrot geschminkt. Was zunächst irritierte, entfaltete in dieser rohen Ehrlichkeit – und vor dem Hintergrund von Krieg in der Ukraine, Repression in Belarus und Demonstrationen in Serbien – eine Wucht, die mich und sogar meine Tochter tief berührte.
Ein neuer Blick
Zeitgenössische und moderne Kunst ist weniger ein Rätsel, das man lösen muss, als ein Spiegel, in dem man sich selbst begegnet. Statt zu urteilen („Das ist doch keine Kunst!“), könnte man neugierig fragen: „Was erzählt es mir?“
Oft gilt: Das scheinbar Alberne ist nur die Oberfläche. Darunter liegen Geschichten, Gedanken, Gefühle – und manchmal eine Schönheit, die man nicht sofort erkennt.
Lass dich drauf ein
Kunst ist wie eine Sprache. Am Anfang versteht man nur Brocken, später ganze Sätze – und irgendwann ganze Welten.
Business-Fotograf | Autor | Fototrainer
Ich liebe die Fotografie und darüber zu schreiben – und das mache ich auf diesem Fotoblog seit 2015 und gelegentlich als Gastautor mit Beiträgen in c’t Fotografie, fotoforum, DigitalPHOTO. Zudem gebe ich Fotokurse, schreibe Fotografie-Ratgeber und arbeite als selbstständiger Business-Fotograf in Berlin und deutschlandweit.